Donnerstag, 22. September 2011

Русская семья

Man sagt, ein jeder Russe hätte neben seinen leiblichen Eltern noch eine abstraktere, darüber stehende Familie bestehend aus "Мать Родина" (Mütterchen Heimat) und "Дедушка Mороз" (Väterchen Frost). Das gute Väterchen Frost habe ich noch nicht kennengelernt - er liegt noch weit oben und ruht sich aus, um uns später mit seiner Anwesenheit zu erfreuen. Aber dem Mütterchen Heimat konnte ich schon einmal 'Guten Tag!' sagen. Dabei ist mir der Umgang der Russen mit ihrer "Mutter" bitter aufgestoßen. Es hat mich geradezu stinksauer werden lassen, zu beobachten, wie man hier ein derart altehrwürdiges Mütterchen behandelt.
Da werden, wie mir hier gesagt wurde, die riesigen Wälder der sibirischen Taiga "für'n Appel und'n Ei" an die Chinesen verschachert, der majestätische Jenissej als Abflußbecken missbraucht und die Luft über den Städten verströmt das "Klima" einer vielbesuchten Opiumhöhle des 19. Jahrhunderts! Wenn diese Wunden dann einmal verheilt sind - was kaum passieren kann -, dann wird von Neuem gegraben, gebohrt und zerrissen! Ja, die Industrie nimmt keine Rücksicht auf das gute, alte Mütterchen Heimat. Und als ob das nicht genug wäre, machen die einfachen Bewohner dieses Paradieses - oft gezwungenermaßen - mit bei dieser Vergewaltigung. Wasser sparen, was ist das? In meiner Kücher fehlt der Stöpsel in der Spüle, und als ich das negativ anmerkte, sagte man mir: "Lass doch das Wasser laufen! Das machen hier alle so!" Energie sparen? Kaum möglich in Russland! In unserem Hausflur und auch hinter dem Haus brennen Tag und Nacht die Lampen. Einen Lichtschalter gibt es nicht. Die Heizungen werden als Energiesparmaßnahme zwar erst ab dem 15. September angestellt, aber seitdem laufen die Dinger trotz 20°C am Tage ununterbrochen in unserem Hausflur und verströmen das Flair einer zentralasiatischen Wüste im Hochsommer. Ich suchte nach Mülltonnen für Plastikmüll, für Küchenabfälle, für Papier - Fehlanzeige! Hier wird alles in eine Tonne gekippt und dann abtransportiert. Als ich am letzten Wochenende auf dem Rückweg aus Stolby die Mülltonnen vor dem Eingang des glücklicherweise noch sauberen Naturparks mit dem Müll tausender Besucher überquellen sah, machte sich das zuvor erlebte Hochgefühl der Begegnung mit schöner Natur ganz schnell aus dem Staub. Hier sieht man, dass der Mensch nicht nur des Menschen Wolf ist, sondern die größte Umweltkatastrophe die unsere gute Erde je erlebt hat! 
Den Russen wird, und das ist ein sehr positiver Ansatz, in vielen Fällen der Respekt gegenüber ihren Eltern gelehrt. Aber wo bleibt dann der Respekt gegenüber "Мать Родина"? Wütet "Дедушка Мороз" vielleicht deshalb manchmal so wild, weil er wütend ist auf die Behandlung der Heimat?

Nachtrag: Ein Foto werde ich zu diesem Thema bewusst nicht ins Internet stellen, da diese Zurschau- stellung des Elends selbst die gelegentlichen Geschmacklosigkeiten einer Bild-Zeitung noch in den Schatten stellen würden.

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