Wie soll man ein Ereignis beschreiben, das eigentlich gar nicht in Worte zu fassen ist? Da war gestern abend der Kuban-Kosaken-Chor auf seiner Jubiläumstour auch in Krasnojarsk und ich durfte es live miterleben! Die einzige Möglichkeit, dieses Ereignis außerhalb der eigenen Erinnerungen zu dokumentieren, wäre ein Eintrag im Kalender:
01. Dezember 2011, 19:00 Uhr - Der Kuban-Kosaken-Chor besucht auf seiner Jubiläumstour zum 200-jährigen Bestehen Krasnojarsk; und ich war dabei!
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Meine Begleiterinnen: Galina und Viktoria |
Wird eine derart trockene Notiz diesem Erlebnis für Augen und Ohren grecht? Nein! Man muss das einfach erleben! Nun, ich will trotzdem versuchen die Stimmung in Worte zu fassen.
Gestern Abend fuhr ich also mit zwei Kolleginnen, Galina und Viktoria, im wie immer schrecklich überfüllten Bus in den Großen Konzertsaal zu dem einzigen Konzert des Kuban-Kosaken-Chors in Krasnojarsk. Auf dieses Ereignis hatte ich mich schon seit Wochen gefreut. Und auch wenn ich jetzt, aufgrund meiner Finanzsorgen, nicht ganz in der besten Stimmung bin, erlaubten mir diese zwei Stunden eine Auszeit vom irdischen Jammerdasein und entführten mich in den musikalischen Himmel. So kaufte ich mir denn auch, trotz des Loches in meinem Geldbeutel für 600,- Rubel eine Doppel-CD des Chors, die ich gerade in diesem Moment höre - doch den Augenblick zurückrufen kann ich damit nicht.
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Den Namen des Malers habe ich leider vergessen |
Zuerst hatten wir ein wenig Zeit im Foyer und konnten die herrlichen Bilder eines finnischen Malers, den eine besondere Liebe mit Sibirien verbindet, betrachten. Seine Bilder sind, von Ferne betrachtet, wahre "Fotografien" der fantastischen Landschaften des Krasnojarski Kraj. Erst wenn man näher herankommt, erkennt man die Natur dieser Bilder als Gemälde, und von ganz Nahem verlieren sie geradezu den Charme der Natur. Ich war also schon im Voraus fasziniert von der ganzen Stimmung. Und dann kamen wir in den wahrhaft
großen Konzertsaal dieses Baus aus den siebziger Jahren.
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мужики и девушки |
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Was habe ich gesagt? Derwische beim Tanz! |
An der Hinterseite der großen, ansonsten leeren Bühne prangten drei große Banner mit dem Logo des Kuban-Kosaken-Chors sowie Glückwünschen zum 200. Geburtstag. Das Ganze war in beruhigendes, nein eigentlich eher trauriges, dunkelblaues Licht gehüllt. Als dann das Licht im Saal ausging, veränderte sich die Beleuchtung der Bühne in ein fast noch dunkler wirkendes weinrot, später in ein helleres Rot, um dann zu einem hoffnungsvollen Grün zu wechseln und so weiter. So war schon durch die Beleuchtung während das ganzen Konzertes eine wechselnde Stimmung gegeben. Korrespondierend zu diesem Licht erklangen dann wilde Kosakenrythmen, zackige Märsche, lustige Volkslieder und die nur in Russland zu erlebende Melancholie der traurigen Lieder.
Der Kuban-Kosaken-Chor besteht allerdings nicht nur aus den fantastischen Sängern, sondern incorporiert auch eine starke Tanzgruppe. Diese Tänzer vollführten, immer wieder abwechselnd mit dem Chor, einen wahren Derwischzauber kosakischen Tanzes auf der Bühne, der einem jedem (zumindest jedem nicht-russischen) Balletttänzer die Schamesröte in das Gesicht treiben könnte. Die Männer sprangen und rannten und drehten sich mit gezückten Säbeln in einem immer schnelleren Reigen. Dazwischen hüpften scheinbar zerbrechliche Grazien mit unglaublich schnellen Drehungen, dass ihre ausladenden Röcke in die Luft flogen. Zur Untermalung des kriegerischen Charakters dieser freien Bauern der Ukraine und Russlands fochten die Männer in wildesten Kämpfen einen künstlerischen Schwertkampf, bei dem wahrhaft die Funken der aufeinander einschlagenden Säbel sprühten. Fast wie nebenbei trat bei einem Tanz ein Schmied mit freiem Oberkörper auf und hämmerte im Rhythmus der wilden Musik auf einen Amboss ein, während um ihn herum die Kosaken mit ihren Mädchen flirteten, sie im schnellen Reigen in die Luft hoben und auf der Tanzfläche drehten. Die Augen wollten sich mir fast aus ihren Höhlen verabschieden angesichts dieses Spektakels und ich verstand jetzt, zumindest ansatzweise, was man in Russland meint, wenn man von einem "мужик" spricht.
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Natürlich feiert man hier auch die russische Größe (s. Flagge) |
Mit "Muschik", einem Wort, das üblicherweise mit "Bauer" übersetzt wird, meinen die Russen heute eine Art Macho! Das hat aber nichts mit der bei uns üblichen Vorstellung vom pöbelnden italienischen Kerl zu tun. Der "Muschik" ist ein ganzer Mann im wahrsten Sinne des Wortes, der den Frauen gegenüber zuvorkommend doch immer wieder deutlich macht, dass er sein Mädel beschützen kann und jeden Gegner oder Nebenbuhler zu bekämpfen imstande ist. Vielleicht wäre "Recke" eine ganz passende Übersetzung.
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Solo eines Goldkelchens |
Für mich waren jedoch nicht die Tänzer die Helden des Abends, sondern der aus knapp dreißig Männern und Frauen bestehende Chor. Die Männer - auch diese mit dem typischen Auftreten eines "Muschik" - dröhnten mit ihren Bässen, dass es auch im hintersten Winkel des großen Saals eine wahre Pracht wahr. Einer dieser stimmegewordenen Kosaken beeindruckte mich im Besonderen, da er sowohl inmitten des Chors auffiel als auch als Solosänger eine durchdringende Glanzleistung vollbrachte (ich kann das einfach nicht besser ausdrücken). Seinen beeindruckenden Gesang würzte dieser kosakische Draufgänger mit dem gezwirbelten Oberlippenbart und der etwas schief auf dem Kopf hängenden Mütze mit einem markerschütternden Pfeifen. Wie kann ein Mensch allein das Lungenvolumen eines Ozeantankers haben? Seine Pfiffe waren nicht etwa nur kurze Piepser sondern laute und vor allem lang anhaltende hohe Töne, die den vorgeblichen Wahn dieser wilden Krieger noch weiter anfeuerten.
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Man achte auf die Inbrunst der Sänger |
Aber natürlich war die Veranstaltung nicht, wie es bisher scheinen mag, eine gefährliche Angelegenheit. Wie um die zum Teil riesigen Kerle im Zaume zu halten, standen vor ihnen niedliche Mägdelein mit kunstvoll gestaltetem Haarschmuck und angetan mit der traditionellen Kleidung der Kosakenfrauen. Und aus deren Kehlen drang lerchengleicher Gesang, der einem schlicht den Atem nahm. Ich habe noch nie aus einem so zarten Gewächs eine derart gigantische (mir fällt kein besseres Wort ein) Stimme gehört - und hier standen gleich zwölf oder fünzehn Mädchen, die Homers Sirenen das Fürchten gelehrt hätten. Wenn sie ihre Kopfstimmen erhoben zu dem, was ich aus Mangel an Kenntnis immer Matroschkagesang nenne, dann zitterte das Parkett im Saal.Dieser stimmgewaltige Chor sang dann über etwa zwei Stunden freche und fröhliche, aber auch unendlich traurige Lieder. Wer einmal die Gelegenheit hatte, eines dieser melancholischen russischen Volkslieder zu hören, der wird vielleicht meine Ergriffenheit bei diesen Liedern verstehen. Darin steckt das ganze Leid, welches das russische Volk über Jahrhunderte des Zwanges unter den Zaren und später unter der Sowjetführung erfahren hatte, all die Knechtschaft und die Leibeigenschaft der russischen Bauern, die bis ins 20. Jahrundert unter der Knute der Bojaren litten. Genau das ist es, was die Kosaken verkörpern.
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Ein sibirischer Kosak - nicht denkbar ohne Pferd |
Ursprünglich als arme Bauern in der kargen russischen Steppe zur Zwangsarbeit auf den Feldern der in Moskau sich vergnügenden Herren verpflichtet, befreiten sich viele Bauern aus der Leibeigenschaft, indem sie schlicht von ihren Höfen flohen und auf dem Rücken ihrer Pferde die Freiheit der russischen Weite genossen. Sie gründeten als Wehrbauern ab dem 16. Jahrhundert eigene Siedlungen, in denen sie mit ihren Familien ein freies Leben führen konnten und unter ihrem Hetman oder Ataman quasi vom russischen Zarenreich abgekoppelt waren. Aus diesem Grunde waren sie denn auch dem Zaren immer ein Dorn im Auge. Er konnte aber auch nicht auf diese unbändigen Bauernkrieger verzichten, denn sie waren die beste Verteidigung gegen die aus dem Osten anrückenden Tartaren. So waren die patriotisch eingestellten Kosaken denn auch lange das kämpferische Rückgrat der zaristischen Armee, aber nicht Teil der regulären Truppen. Erst im späten 18. Jahrhundert wurden sie mit einigen Privilegien als Elitetruppe in die Armee Katharinas der Großen eingegliedert und bildeten so bis 1917 eine der schlagkräftigsten Spezialtruppen Europas. Danach wurden sie als Revolutionsgegner zumeist verfolgt, auch wenn es "rote" Kosaken unter Budjonnyj gegeben hatte.
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09. Mai 1945 in Moskau: Auch Kosaken kämpften gegen Hitler! |
So, mit diesem langen Bericht habe ich versucht, ein kleines bisschen von meinen Eindrücken zu "Papier" zu bringen und bin dabei, so empfinde ich es, kläglich gescheitert. Was soll man da machen? Wer wiklich dieses Erlebnis nachempfinden will, sollte sich umhören, ob es im Umkreis von etwa 1.000 km (man lernt in Russland ein anderes Raumgefühl) eine Aufführung gibt und dann dort hinfahren.